Text: Andreas Reichenau

Illusionen in Odessa – die Treppe hinauf, Stufe um Stufe

Es gibt ein schönes Foto von unserem Team, gleich am ersten Tag. Da fehlen noch zwei Jungs, Manuel und Joscha. Sie kommen erst in der Nacht an. Wir sitzen auf den untersten Stufen der berühmten Treppe nahe am Wasser. Leider führt eine lärmige Straße entlang, die acht der insgesamt 200 gewaltigen Stufen unter sich begraben hat.

Am Fuße der Potemkinschen Treppe. Dort, wo die letzten acht Stufen von einer Straße zubetoniert wurden.

Die Treppe führt scheinbar in den Himmel, eine bewusst beabsichtigte Illusion des Architekten. Unten ist die Treppe gut acht Meter breiter als oben. Der Fluchtpunkt der Treppenränder liegt weit über den Häusern, der Blick wird bei genauem Betrachten in die
Weite des Himmels geleitet. Das Ziel für uns unerreichbar, ein Wunschdenken, nur ein Traum. Aber träumen ist ja erlaubt.

Ich nehme dieses Bild mal auf, um es mit unserer Welt des Fußballs zu verbinden. Betrachte
ich die Abschluss-Tabelle des Turniers, fallen Parallelen auf: Team Germany steht unten, die Tabellenspitze angesichts der Punktestandes unerreichbar. Turniersieg, vorderer Platz – eine Illusion. Nun sind wir ja die Potemkinsche Treppe nicht nur hinuntergestiegen, sondern auch wieder hinauf.
Stufe für Stufe, Absatz für Absatz. Wir haben uns nicht entmutigen lassen vom scheinbar unerreichbaren himmlischen Ziel. So ist es doch auch im Fußball.  Ein Spiel kommt nach dem anderen, zunächst die erste Halbzeit, dann die zweite. Und jedes Mal nehmen wir uns vor, eine passable Figur zu machen, hoffen auf einen Erfolg – mit all unseren bescheidenen Mitteln.

Und auch wenn die Ergebnisse ernüchternd sind, wir haben uns gut verkauft. Da waren wir
uns am Ende – denke ich – einig. Nie den Mut verloren, immer gekämpft, manchmal nur knapp geschlagen. Bis auf ein Spiel haben wir nie mit mehr als zwei Toren Unterschied verloren. Gegen den Turniersieger Georgien lag sogar kurz eine Sensation in der Luft, wir gehen in Führung, da haben alle Teams gestaunt. Da war der magische Moment, die Hoffnung keimte auf. Deshalb spielst Du Fußball, leidest spätestens nach dem Turnier unter Gliederschmerzen. Und träumst vom Erfolg. Aber der Sieg oder ein Unentschieden blieben eine Illusion. Georgien zu stark, auch dieses Spiel gewinnt der Gegner.

Ok, ohne unseren phantastischen Goalkeeper Fred hätte wir doch so manche „Packung“ bekommen. Fred ist gesprungen und geflogen, so als könnte er die Treppe hinaufjagen direkt in den Himmel. Und das war keine Illusion. Er, der älteste Spieler im gesamten Turnier, bekommt völlig zurecht den Preis des besten Torhüters. Mit Abstand sind wir die älteste Mannschaft im Feld, das mag den 6. Platz in der Tabelle auch erklären.

Aber mal ehrlich – die Tabelle ist doch egal, nachrangig. Wir spielen ein Spiel nach dem anderen. Der Ball rollt, und du läufst. Mitmachen, am Ziel ankommen, dabei sein. Abends
beim Festbankett bekommen wir tosenden Applaus, ähnlich wie der Sieger. Kein Wunder, wir sind der sichere Punktelieferant für die anderen. Aber man mag uns. Vielleicht weil wir
uns immer wieder stellen, egal ob der Gegner zwei, drei Stufen höher spielt. Der Abend, auch so ein magischer Moment. Fred singt, Georgien tanzt – und alle haben volle Teller. Die Gastgeber haben ein opulentes Turnier organisiert. Im Namen Od-essa steckt irgendwie das Wort Essen. Es gibt viel davon – und um im Bild zu bleiben, wir steigen kulinarisch die Stufen hinauf. So wie bei der gesamten Reise.

Vier Tage sind wir in der Stadt. Natürlich sind wir die Treppe an der steilen Küste wieder hinaufgekommen und haben die Stadt mit ihren pompösen Häusern aus der Gründerzeit erkundet. Was muss das für Anblick gewesen sein für die Menschen, die vor 150 Jahren erstmals in Odessa ankamen, um dort ihr Glück und ihre Freiheit zu suchen. 20 Jahre keine Steuern zahlen, zollfreie Waren und Religionsfreiheit: Damit lockte Zarin Katharina II
Menschen aus aller Herren Länder in die junge Stadt. Bürger aus über 140 Nationen leben heute in der Millionenmetropole. Unser Stadtführer hat diese Zahlen parat und erzählt als Wolgadeutscher nicht ohne Stolz von den ethnischen Vierteln und Quartieren der Stadt. Bleibt zu hoffen, dass sich Wünsche und Träume der Bevölkerung angesichts der Wirren und Zerwürfnisse der vergangenen Jahre und Jahrzehnte irgendwann erfüllen.

Es lässt sich gut durch die breiten, mit Bäumen gesäumten Straßenzüge schlendern, um dann im zentralen Stadtpark eins der netten Cafés oder Lokale aufzusuchen. Und der Tipp des Stadtführers mit der Buslinie 184 klappt auch: Mit quietschenden Bremsen ruckelt der Bus zurück ins moderne von Betonklötzen geprägte Touristenviertel. Oder man nimmt die Straßenbahn Nr. 5 und hofft, dass sie angesichts der mürben Schienen nicht entgleist und steigt am Hotel unmittelbar vor der Strandmeile mit ihren Vergnügungen wieder aus. Hier drehen sich Karussells, Barhocker und, ja, Illusionen locken. Die Geisterbahn hätten Joscha und Bernd gerne von innen gesehen, aber entweder hat sie zu oder niemand lässt sie hinein. Traum geplatzt. Genauso wie der Traum vom Punk-Konzert im More Music Club. (s. extra Bericht von Bernd)

Und noch eine Illusion: Gemeinsam gleichzeitig essen im Restaurant ist schwierig. Irgendwer bekommt sein Gericht oder die Pommes wie eine Vorspeise recht schnell, während die anderen noch lange warten. Aber satt sind wir immer geworden.

Beenden wir die Reise mit einem langen Spaziergang über den Küstenweg an den Ufern des Schwarzen Meeres. Keine Illusion: Manuel schafft den Sprung ins kalte Wasser, während wir anderen lieber die wärmenden Sonnenstrahlen an windstillen Ecken genießen (Oder wie Reza und Andreas eine Massage nach langem Schlaf).  Um keine Treppen zu steigen, gibt‘s auch
eine kleine alte Seilbahn hinauf zur Stadt. Hier sehe ich von oben die Sportanlage mit ihren Fußballplätzen. Und denke an das nächste Turnier. Vielleicht in Georgien. Ich freue mich auf ein Wiedersehen und neue Abenteuer. Vielleicht doch mal Turniersieg oder ein vorderer Platz? Stufe für Stufe schwebe ich in der Gondel immer weiter dem Fußball-Himmel entgegen. Der Wunsch bleibt, noch ist es Illusion, aber Träume können ja auch mal wahr werden.

Bis bald!  Andreas